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Samstag, 23. November 2024

Den iranischen Antisemitismus ernst nehmen

Von Jeffrey Herf*

(Aus dem Englischen von Matheus Hagedorny für STOP THE BOMB. Die Originalfassung erschien am 2. Juni 2014 bei The American Interest.)

Wenn amerikanische Entscheidungsträger ihr Augenmerk auf das iranische Regime richten, betonen sie vor allem die technischen Aspekte seiner militärischen, wirtschaftlichen und nuklearen Ressourcen. Doch nur selten wird seiner politischen Theologie die gebührende Aufmerksamkeit zuteil.

Ein radikaler, religiös begründeter Hass auf das Judentum, den Zionismus und den Staat Israel ist Kernbestandteil des ideologischen Glaubenssystems der iranischen Führung. Dennoch beachten die Entscheidungsträger in den USA nur höchst selten den vorherrschenden iranischen Antisemitismus. Tatsächlich wird er außerhalb von Israel und einigen intellektuellen Kreisen des Westens kaum erwähnt. Mit Sicherheit ist der radikale Antisemitismus des iranischen Regimes für Israel von größter Wichtigkeit, doch bedroht eine von derart gewaltträchtigem Hass getriebene Herrschaft die ganze Welt, allen voran die modernen westlichen Demokratien.

Während der US-Kongress Anhörungen über technische Fragen des iranischen Nuklearwaffenprogramms und die Wirkung von Wirtschaftssanktionen abhält, wurde meines Wissens niemals öffentlich über den antisemitischen Kern der Islamischen Republik und darüber gesprochen, wie dieser Kern das Streben nach Nuklearwaffen beeinflusst. Derartige Anhörungen sind lange überfällig. Der Judenhass, den die iranischen Führer propagieren, bildet eine so wahnhafte, derart von der Wirklichkeit entrückte Weltanschauung, dass deren Verteidiger fast sicher von dem abkommen müssen, was zurechnungsfähiges Verhalten in internationalen Beziehungen ausmacht. In der Tat können die amerikanischen Entscheidungsträger nicht davon ausgehen, dass dem Iran sein eigenes Überleben mehr wert ist als das Ziel der Ausrottung des verhassten jüdischen Feindes.

Die Erkenntnisse über die Geschichte des Antisemitismus haben bislang keinen merklichen Einfluss auf die Iran-Debatte in Washington. Womöglich befinden sich viele unserer Regierenden, Politiker und Analysten im Irrtum, dass radikaler Antisemitismus bloß die Spielart eines Vorurteils oder, schlimmer: eine verständliche (und daher entschuldbare) Antwort auf den Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten und den Palästinensern ist. Tatsächlich ist dieser Antisemitismus weit bedrohlicher und weit weniger in ein System nuklearer Abschreckung integrierbar, welches davon ausgeht, dass alle Nuklearmächte die höchste Priorität auf ihre Selbsterhaltung legen. Der iranische Antisemitismus ist nicht im Geringsten rational, er besteht aus einer paranoiden Verschwörungstheorie, welche die Welt durch die Behauptung erklären will, dass der mächtige und böswillige „Jude“ die bestimmende Kraft des globalen Geschehens sei. Politische Führer, die den 13 Millionen Juden der Welt und einem kleinen Staat mit etwa acht Millionen Einwohnern größte Macht zusprechen, demonstrieren, dass sie nicht die angemessene Gemütslage haben, um am atomaren Schachspiel teilzunehmen.

Der iranische Antisemitismus ist wohl dokumentiert, besonders durch Meir Litvak von Dayan Center for Middle East Studies der Universität Tel Aviv und das Middle East Research and Media Institute (MEMRI). Sie haben eine Fülle an Beweisen dafür geliefert, dass der Hass auf Juden und die Entschlossenheit zur Zerstörung des Staates Israel die vorrangigsten Ziele für die Islamische Republik bilden, seit ihr Begründer, Ayatollah Ruhollah Khomeini, solcher Gesinnung theologische Weihen verliehen hat. Wie seine islamistischen Brüder, Haj Amin al-Husseini und Sayyid Qutb, hat Khomeini verkündet, dass die Juden versessen darauf seien, den Islam zu zerstören, eine Mission, die nach ihm ihren modernen Ausdruck in der Gründung von Israel findet.

Auch sein Nachfolger teilt Khomeinis Gesinnung. Laut der Islamic Republik News Agency (IRNA), sagte Ayatollah Ali Khamenei, dass „die Besetzung von Palästina [durch die Juden] Teil eines satanischen Plans der weltbeherrschenden Mächte, zunächst von den Briten und nun von den Vereinigten Staaten ausgeführt wird, um den Zusammenhalt der islamischen Welt zu schwächen und die Keime der Zwietracht unter den Staaten auszusäen.“ Wie Meir Litvak schreibt, sehen Khomeini wie Khamenei die Juden und das Judentum als Bedrohung des Islams und der Muslime.

Khomeini gab kompromisslose, theologisch fundierte Erklärungen darüber ab, dass Israel und der Zionismus nicht allein Feinde des Islams, sondern der gesamten Menschheit seien - und Khamenei tut es ihm gleich. Solch bösartige Feinde müssen, so ihre Überzeugung, zum Wohle aller vernichtet werden.

Als Historiker für die moderne deutsche Geschichte, der auf die Nazi-Zeit und den Holocaust spezialisiert ist, kenne ich die Fallstricke unangemessener historischer Vergleiche. Die Feinde Israels bedienen sich ihrer alltäglich; die Sowjetunion, die arabischen Staaten, palästinensische Organisationen, islamistische Terrorgruppen und die Regierung des Iran haben alle Israel mit Nazi-Deutschland verglichen. Doch unsere gegenwärtige politische Diskussion leidet am gegenteiligen Problem. Die Entscheidungsträger sind unwillig, radikalen Judenhass aufrichtig und offen zu erörtern, sofern er sich aus islamistischen Quellen speist. Trotz der Unterschiede müssen wir festhalten, dass die Islamische Republik Iran nach Hitlerdeutschland das erste Regime ist, für das der Antisemitismus das zentrale Element seiner Identität bildet. So wäre ein Iran mit Atomwaffen die erste Regierung seit 1945, die sowohl fähig also auch willens wäre, mit einem zweiten Holocaust zu drohen.

Kein hochrangiges Mitglied der Obama-Regierung hat eingeräumt, dass dies der Fall ist, weder der Präsident noch sein Außen- oder Verteidigungsminister haben den iranischen Antisemitismus erwähnt. Dieses Problem ist in den Hintergrund getreten und wird durch technische Fragen über Zentrifugen, Prozentzahlen der Urananreicherung und break out times überlagert.

Wenn die Regierenden die grundlegenden Überzeugungen der iranischen Führung verkennen, dann nähren sie den Eindruck, dass der Iran eine kleinere, islamische Version der Sowjetunion sei – das jedoch wäre ein Staat, der, wenn er über Atomwaffen verfügte, im materiellen Eigeninteresse handelte. Doch die Sowjetunion wurde von Atheisten regiert, welche die Vorstellung eines Jenseits verachteten und über die fixe Idee lachen würden, dass der Zwölfte Imam nach einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes auf die Erde zurückkehren würde. Sollte der Iran Atomwaffen erlangen, wäre er voraussichtlich der erste Staat, den man nicht durch die Aussicht eines nuklearen Gegenschlags abschrecken könnte. Die Irrationalität der iranischen Regierung hat noch kaum die Aufmerksamkeit der US-Regierung, welche außerstande ist anzunehmen, dass Leute ihren Glauben auf einen postapokalyptischen Messias ausrichten. Dies zeugt sowohl von mangelndem Vorstellungsvermögen als auch vom Versagen der Politik.

Es ist unklar, warum es eine Abneigung gibt, das zu erörtern, was die Führer Irans glauben. Ein Teil der Schuld mag in der Tendenz der Anhänger des außenpolitischen Realismus liegen, Ideologie nicht ernst zu nehmen. Oder es liegt vielleicht daran, dass die Israelis die Ideologie Irans am besten und umsichtigsten aufgearbeitet haben, was einige Analysten dazu veranlasst, sie zu ignorieren. Präsident Obamas wiederholte Erklärungen, dass „die Wogen des Krieges zurückgehen“, seine Entscheidung zum Rückzug aus dem Irak und Afghanistan, und seine Weigerung, in Syrien einzugreifen, legen eine andere Erklärung nahe. Ein eingehender und aufrichtiger Blick auf den Glauben der Herrscher des Iran würde die Hoffnung untergraben, dass die Islamische Republik eigentlich ein normaler, rationaler Akteur der Weltpolitik ist. Denn wenn die Iraner tatsächlich glauben, was sie sagen, dann führt dies zum unausweichlichen Schluss, dass sie über die Zwecke ihres Atomprogramms lügen und die westlichen Staats- und Regierungschefs, einschließlich des US-Präsidenten, zum Narren halten.

Ferner bedeutet dies, dass ihr Streben nach der Atombombe nicht nachlassen wird, bis ihnen allermindestens mit noch größerem wirtschaftlichen Schaden gedroht wird – allerdings wahrscheinlich nicht, bis die USA dem Iran glaubhaft mit militärischen Aktionen drohen. Weil niemand weiß, wie eine derartige militärische Kampagne – keine Invasion, wohl aber Marine- und Luftwaffenoperationen – enden würde, möchten die Entscheidungsträger den Iran als „normalen Staat“ begreifen und neigen dazu, die unbequemen Beweise seines ideologischen Fanatismus zu missachten. Doch das Leugnen der Realität wird diese nicht verschwinden lassen.

Es gibt andere und geläufigere Gründe, warum die Vereinigten Staaten die iranische Atombombe verhindern wollen. Ein atomar bewaffneter Iran könnte ein militärisches Vorgehen gegen dessen terroristische Stellvertreter, Hamas und Hisbollah, vereiteln und drohte die Energieversorgung über den Persischen Golf zum Erliegen zu bringen. Sollte der Iran die Bombe erlangen, nachdem etliche amerikanische Präsidenten erklärt haben, dass dies nicht geschehen darf, wäre Amerikas Glaubwürdigkeit beschädigt. Ohne die Vereinigten Staaten als verlässlichen Garant würde der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen weniger stabil erscheinen, und viele andere Staaten könnten damit beginnen, ihre eigenen Nuklearwaffenprogramme zu entwickeln – nicht zuletzt Japan und Südkorea.

Am 6. Februar 2014 hielt Senator Robert Menendez, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des US-Senats, eine bisher kaum beachtete, historische Rede über den Stand der Verhandlungen mit dem Iran. Anlässlich seiner Ablehnung der Lockerung der Wirtschaftssanktionen durch das Genfer Zwischenabkommen vom November 2013 bemerkte der Senator, dass „Jahre der Verschleierung, Verzögerung und endlosen Verhandlung die Iraner – laut dem Direktor der nationalen Geheimdienste – zu dem Punkt geführt haben, die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Kapazitäten zu entwickeln, um letztlich Nuklearwaffen zu produzieren.“

Die Strategie der Iraner, „diese Verhandlungen“ dazu zu nutzen, „das nukleare Infrastrukturprogramm nur so lange stillzulegen, um das internationale Sanktionsregime zurückzusetzen“, hat „sie zum nuklearen Schwellenland gemacht.“ Auch der Obama-Administration dürfte dies größtenteils bekannt sein. Die Entscheidungsträger sollten einsehen, dass der Iran nicht Milliarden von Dollar investiert und nicht Jahre der internationalen Isolation überstanden hat, um seinen Kurs zu ändern und die Jagd nach Kernwaffen zu beenden. Womöglich wissen die Offiziellen, die an den Fünf-Mächte-plus-Deutschland-Gesprächen beteiligt sind, dass der wahrscheinlichste Ausgang der aktuellen Politik ist, dass der Iran die Bombe erlangt, die er vorgibt nicht zu wollen. Wenn der Plan darin besteht, eher einen nuklear bewaffneten Iran einzubinden, als ihn davon abzuhalten, die Bombe zu bekommen, dann hat die Nichtbeachtung der Ideologie Irans einen gewissen Sinn. Eine derartige Politik kann nur auf einer willentlichen Ignoranz der Kernüberzeugungen des Regimes beruhen.

Die Vereinigten Staaten haben die wirtschaftlichen und militärischen Mittel, um die iranische Bombe zu verhindern. Wenn es notwendig wird, Gewalt anzuwenden, um dieses Ziel zu erreichen, muss die Regierung den vollen Umfang von Gründen für diese Entscheidung präsentieren. Ein Regime, das von radikalem Antisemitismus beseelt ist, erzeugt nicht nur die Gefahr eines zweiten Holocausts, sondern stellt – bedingt durch seine gefährliche Irrationalität – eine Bedrohung für die ganze Welt dar. Präsident Obama und seine leitenden Beamten beharren darauf, dass ihre Politik eine der Prävention sei, doch scheinen sie nicht die Leute zu verstehen, die sie abschrecken wollen. Der ideologische Extremismus des Iran verliert sich im Nebel technischer Einzelheiten. Wollen wir allerdings eine wirksame Iran-Politik haben, müssen wir erst verstehen, wie dieses Land tickt, und nicht nur seine Bomben.

* Jeffrey Herf ist Professor für Geschichte an der University of Maryland. Er ist u.a. Autor von Nazi Propaganda for the Arab World (Yale University Press 2009) und The Jewish Enemy: Nazi Propaganda during World War II and the Holocaust (Harvard University Press 2006). Für den von Stephan Grigat und Simone Dinah Hartmann herausgegebenen Band Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung (Studienverlag 2010) hat er das Geleitwort geschrieben. Herf war mehrfach auf Veranstaltungen von STOP THE BOMB in Berlin und Wien als Referent zu Gast.